»Die Betäubung« ist ein ausgesprochen vielschichtiger Roman dessen Titel gleich auf mehrere seiner Themen anspielt.
Der Psychoanalytiker Drik de Jong beginnt nach dem langsamen Tod seiner geliebten Frau wieder zu arbeiten. Auf Empfehlung seines Freundes, Kollegen und Schwagers Peter empfängt er zuerst einen Psychiatrie-Studenten, Allard Schuurman, der die vorgeschriebene Lehrtherapie antreten möchte. Eigentlich sollte das ein leichter Einstieg sein, aber Drik fühlt sich unglaublich unsicher, ist sehr nervös und kann sich nur schwer auf seinen Patienten konzentrieren. Erscheint der junge Schuurman ihm deshalb irgendwie unheimlich, ja sogar bedrohlich? Drik versucht, diesen Eindruck beiseite zu schieben und betrachtet ihn als Folge des fast unmöglichen Spagats, den er selbst vollführen muss. Einerseits möchte er den Schmerz über den Verlust seiner Frau betäuben, soll aber andererseits mit großer Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen für seinen Patienten da sein. Während Drik orientierungslos vor den Trümmern seines Lebens steht, muss er anderen Sicherheit und Halt geben. Er beschließt, sich einfach zusammenzureißen, sein Sprechzimmer zu renovieren, ein begonnenes Buch zu vollenden, wieder mehr Patienten anzunehmen und für seine angeschlagene Seele weiterhin Hilfe bei seiner jüngeren Schwester Suzan und deren Familie zu suchen, die ihn liebevoll aufnimmt.
Suzan hat nach einer längeren Pause, in der sie sich voller Hingabe um ihre kranke Schwägerin gekümmert hat, ihre Arbeit als Anästhesistin im örtlichen Krankenhaus wieder aufgenommen. Sie genießt geradezu den enormen Stress, die hektische Betriebsamkeit und die schwierigen Situationen, in denen sie ihren Kollegen wie Patienten Ruhe und Kompetenz vermitteln muss, während unter den Ärzten Grabenkämpfe toben und der Zeitplan schon durch kleinste Verzögerungen gefährlich eng wird. Was für sie zählt, ist einzig die perfekte Betäubung des Patienten und dafür gibt es klare Regeln, eindeutige Vorschriften und wirksame Mittel. Hier soll niemand etwas fühlen, damit die Behandlung gelingen kann.
Genau dieser grundsätzliche Unterschied zwischen Psychoanalyse und Anästhesie bewegt den tief verunsicherten Studenten Allard Schuurman plötzlich das Fachgebiet zu wechseln. Er bewirbt sich um eine Praktikantenstelle in der Anästhesie und blüht dort förmlich auf. Die neue Arbeit interessiert und begeistert ihn — aber auch seine hübsche Supervisorin Suzan.
In Verbindung mit zunächst harmlos aussehenden Fehlern birgt diese Konstellation eine hohe Sprengkraft für scheinbar felsenfest gefügte Beziehungen. Da Drik Schuurmans Therapie nicht sofort abbricht, als dieser in die Anästhesie wechselt, erfährt er unter Schweigepflicht, dass seine Schwester sich tatsächlich auf eine Affäre mit ihrem Praktikanten einlässt. Suzan will dies eigentlich nicht, ist aber durch den Tod ihrer Schwägerin offenbar tiefer getroffen, als sie sich eingestehen mag und findet deshalb nicht die Kraft, die Beziehung zu Alan Schuurman zu beenden. Schuurman wiederum, nicht ahnend, dass Drik und Suzan Geschwister sind, wird in seinem Verhalten gegenüber Suzan immer kühner und gesteht das alles regelmäßig seinem Therapeuten. Drik wird dadurch immer weiter in eine fatale Zwickmühle gedrängt. Auch im Krankenhaus wächst natürlich die Gefahr, dass die Affäre ans Licht kommt, und außerdem hat Alan Schuurman nebenbei eine feste Freundin, die sich allmählich Gedanken macht.
Anna Enquist hat hier einen gleichermaßen spannenden, informativen, nachdenklichen und so reichhaltigen Roman geschrieben, dass er für weit mehr als einmaliges Lesen Stoff bietet.
Es gehört zu ihrer großen Kunst, das Leben in seiner ganzen Tiefe zwischen zwei Buchdeckeln einzufangen und trotzdem auch die schwierigste Geschichte hoffnungsvoll enden zu lassen. Einfach grandios!