Ich und Monsieur Roger von Marie-Renée Lavoie

Roman­heldin ist genau das, was die Ich-Erzäh­lerin Hélène gerne sein möchte, und wie ihr großes Vor­bild Lady Oskar aus ein­er Fernsehserie, kämpft sie edelmütig für eine bessere, gerechtere Welt. In ihrer über­bor­den­den Phan­tasie ist sie natür­lich ein Junge, nen­nt sich Joe, weil der Name „Oskar“ bere­its für einen neuen Besen in aller Munde ist und ist unglaublich mutig, stark und erwach­sen. Tat­säch­lich ist das Mäd­chen erst acht Jahre alt, gibt sich aber für zehn aus, um für etwas Taschen­geld Zeitun­gen aus­tra­gen zu dür­fen. In aller Frühe het­zt sie schreck­haft durch die dun­klen, unheim­lichen
Gassen eines ärm­lichen Stadtvier­tels in Que­bec. Die Gegend ist von aller­lei selt­samen Gestal­ten bevölk­ert, von denen viele aus der benach­barten Irre­nanstalt stam­men, aber Joe fürchtet sich nur im Dunkeln vor ihnen. Eigentlich hegt sie eine Menge Sym­pa­thie für ihre Mit­men­schen, beobachtet sie sehr genau und akzep­tiert ihre Eigen­heit­en ganz selb­stver­ständlich.

Sog­ar Mon­sieur Roger, den neuen ungepflegten, immer laut fluchen­den, achtzigjähri­gen Nach­barn schließt sie nach einiger Zeit ins Herz. Das würde sie ihm aber nie offen zeigen. Die bei­den pfle­gen eine beson­dere, qua­si indi­rek­te Fre­und­schaft und helfen einan­der schein­bar unab­sichtlich durch den schwieri­gen All­t­ag.

Roger ist ein­sam, ver­witwet, hat keinen Kon­takt mehr zu seinen Kindern und trinkt hem­mungs­los, während er auf einem alten Stuhl – dem einzi­gen Erin­nerungsstück an seine ver­stor­bene Frau – vor
der Haustür sitzt und wie er sagt, auf den Tod wartet. Allerd­ings ken­nt er eine Menge wirkungsvoller
Haus­mit­tel für jede erden­kliche Gele­gen­heit, die er nur wider­willig für reich­lich Bier preis­gibt, wie er über­haupt alles Sym­pa­this­che hin­ter seinen der­ben Flüchen ver­steckt.

Joe hat noch drei Schwest­ern, eine sehr strenge Mut­ter und einen gut­müti­gen Vater, der die Erin­nerung
an seine erfol­glosen Arbeit­stage als Lehrer abends regelmäßig mit Alko­hol wegspült und sich schämt, seine Fam­i­lie nicht bess­er ver­sor­gen zu kön­nen. Aufmerk­sam wie sie ist, erken­nt Joe früh, wo ihre Eltern über­fordert sind. Sie schmuggelt ihr Zeitungs­geld heim­lich in Mut­ters Geld­beu­tel, küm­mert sich liebevoll um die bei­den jün­geren Schwest­ern und ver­sucht, die Aufmerk­samkeit ihrer Eltern nicht ger­ade durch Katas­tro­phen zu gewin­nen. Joe kön­nte fast ein über­braves „Vorzeigekind“ sein, hätte sie nicht dieses liebenswürdig lose Mundw­erk, das ihr neben ihrem unbändi­gen Tem­pera­ment
und ihrer schi­er gren­zen­losen Phan­tasie hil­ft, sich über­all durchzuschla­gen und ihrem tris­ten
All­t­ag reich­lich Farbe zu ver­lei­hen.

Marie-Renée Lavoie erzählt ein­fühlsam, ohne jemals ins Kitschige abzu­gleit­en in ein­er geschliff enen, erwach­se­nen Sprache und bleibt dabei trotz­dem ganz überzeu­gend in der Per­spek­tive des kleinen Mäd­chens. Alles an dieser Geschichte wirkt sehr natür­lich und plau­si­bel. Eine auf­bauende, erfrischende Lek­türe zum Träu­men von ein­er besseren Welt. IR

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