Die Perlentaucherin von Jeff Talarigo

In seinem sehr bewe­gen­den Roman erzählt Jeff Talar­i­go die Geschichte ein­er 19jährigen Japaner­in, die an Lep­ra erkrankt und daraufhin in einem Sana­to­ri­um auf der kleinen Insel Nagashima interniert wird. Das Meer, von dem sie als Taucherin lebt und mit dem sie sich so sehr ver­bun­den fühlt, bekommt dadurch plöt­zlich etwas unüber­windlich Tren­nen­des.
Bei der Ankun­ft auf Nagashima muss sie neben ihrem per­sön­lichen Besitz auch  ihre gesamte Ver­gan­gen­heit able­gen und sich sog­ar einen neuen Namen wählen. Kein­er von den anfänglich etwa 2500 Patien­ten darf mehr von sein­er Ver­gan­gen­heit sprechen, seinen alten Namen nen­nen oder gar Kon­takt zur Außen­welt aufnehmen. Die Lep­ras­ta­tion ist somit eine fast völ­lig abgeschlossene Welt für sich, in die nur sehr langsam Ein­flüsse von außen ein­drin­gen und aus der es prak­tisch kein Entkom­men gibt.
Obwohl schließlich Medika­mente gefun­den wer­den, die den Ver­lauf der Krankheit kon­trol­lier­bar machen, bleibt die Furcht in der Gesellschaft beste­hen, so dass die Abgren­zung des Sana­to­ri­ums nur sehr langsam zurückgenom­men wird.
Wed­er durch heim­liche Tauchaus­flüge zur gegenüber­liegen­den Küste, welche die junge Frau bei Nacht untern­immt noch durch spätere offizielle Besuche in der Stadt oder sog­ar den Bau ein­er Brücke zum Fes­t­land lassen sich die Gren­zen im Unter­be­wusst­sein der Men­schen über­winden. Die Kranken von Nagashima haben also wed­er Ver­gan­gen­heit noch Zukun­ft in der freien Gesellschaft. Ihnen bleibt einzig, sich in ihr Schick­sal zu fügen und selb­st unter den unmen­schlich­sten Bedin­gun­gen um den Erhalt ihrer Würde zu kämpfen. Die Form dieses Romans erin­nert tat­säch­lich an eine Per­len­kette, deren »Ver­schluss« die Erzäh­lung vom Leben der Taucherin vor ihrer Erkrankung bis zur Internierung auf Nagashima am Anfang und ihr Ver­such außer­halb der Lep­ras­ta­tion zu Leben am Ende des Romans bilden.
Dazwis­chen liegen aufgerei­ht wie Perlen auf ein­er Schnur über fün­fzig einzelne kleine Geschicht­en, die anhand der sorgsam kat­a­l­o­gisierten  Arte­fak­te von Nagashima erzählt wer­den.
So entste­ht allmäh­lich ein sehr genaues Bild des Lebens im Sana­to­ri­um.
Jeff Talar­i­go find­et für alles eine wun­der­bar leichte, schöne Sprache, die fast den Ein­druck der Schw­erelosigkeit entste­hen lässt. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Gegen­satz zu dem schwieri­gen The­ma, aber tat­säch­lich gelingt es ihm damit, dem Roman etwas Zeit­los­es zu ver­lei­hen. Er beschreibt  den längst ver­gan­genen Umgang mit ein­er ural­ten Krankheit, ohne ein einziges Mal den Bezug zur Gegen­wart zu erwäh­nen. Trotz­dem ist der Roman natür­lich bran­dak­tuell, weil Berührungsäng­ste und Aus­gren­zung keineswegs der Ver­gan­gen­heit ange­hören.
Man muss nicht viel denken, um diesen Roman zu lesen, aber man begin­nt nachzu­denken, wenn man ihn liest.

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