Louis de Bernières »Traum aus Stein und Federn« beschreibt den langsamen Untergang einer beschaulichen, heilen Welt am Beispiel der Kleinstadt Eskibahce im Südosten Anatoliens.
Vor etwa hundert Jahren leben dort noch Christen und Muslime, Griechen, Türken und Armenier in selbstverständlicher Eintracht und vollkommenem Frieden zusammen. Die Menschen respektieren den Glauben der anderen, teilen ihren Aberglauben und versuchen dabei, von den Möglichkeiten, die sich aus kultureller Vielfalt ergeben, zu profitieren.
Wer es kann, schreibt Türkisch mit griechischen Buchstaben, auch wenn sich dem griechischen Lehrer beim Lesen solcher Texte schier der Magen umdreht. Die Frau des Imams bittet bei dringenden Anliegen durchaus ihre christliche Freundin, für sie ein Gebet bei der Madonna vorzubringen, genauso wie der Vater der wunderschönen Philotei seinen muslimischen Freund Iskander den Töpfer ersucht, Tücher mit Segenswünschen für seine Tochter in eine heilige Kiefer zu hängen.
Die eigentliche Handlung beginnt mit Philoteis Geburt im Jahre 1900. So wie sie allmählich heranwächst, sich zu einer wunderschönen jungen Frau entwickelt und die Liebe zwischen ihr und dem Ziegenhirten Ibrahim immer tiefer wird, beginnt das Osmanische Reich langsam seinen Abstieg, bekommt immer mehr Probleme mit erstarkendem Nationalbewusstsein der einzelnen Volksgruppen, bis es schließlich im Krieg zerfällt. Diese Entwicklungen erreichen natürlich auch die kleine Stadt Eskibahce, in der das Leben noch schwerer und ärmlicher wird, als alle muslimischen Männer zum Kriegsdienst einberufen werden. Die Christen stehen fassungslos daneben und können zunächst gar nicht begreifen, warum sie nicht an der Seite ihrer Freunde für ihren Sultan kämpfen dürfen. Erst ganz langsam wird auch den Bewohnern in dieser abgelegenen Gegend klar, dass sie plötzlich keine Osmanen mehr sein dürfen, sondern als Christen zu Griechen, als Muslime zu Türken und als Armenier zu Feinden gemacht werden.
Aber selbst der Krieg, die Deportation, der Wahnsinn und die Armut, die am Ende übrigbleiben, führen nicht dazu, dass die Menschen diese aufgezwungenen Feindbilder verinnerlichen. Es bleibt der Respekt vor den alten Nachbarn und die Überzeugung, dass keiner von ihnen seinen Platz in der neuen Ordnung wählen konnte.
In einer wunderbar poetischen Sprache lässt Louis de Bernières eine ganz eigene Welt entstehen, die durch häufigen Wechsel der Erzählperspektive von allen Seiten gezeigt wird und sehr lebendig wirkt. Er beschreibt sie so farbenprächtig und liebevoll, dass man sich als Leser gleich wohlfühlt und viel Verständnis und Zuneigung für die Menschen dort entwickelt. Wie im richtigen Leben gibt es trotz der im Großen tragischen Entwicklung viele komische Situationen, so dass der Traum aus Stein und Federn ein wirklich schöner Traum ist, an den man noch lange nach dem Aufwachen gerne zurückdenkt.